Galerie Mezzanin

Die Radio City Music Hall mit der sich Mandla Reuter im Vorfeld seiner zeitgleich im 1822 Forum und im rraum stattfindenden Ausstellungen beschäftigt hat, ist ein exemplarischer Ort neuzeitlicher mechanischer Magie.

Seit über 70 Jahren können dort bis zu 5933 Zuschauer pro Show erleben, dass Showgirls und ganze Orchester wie von Geisterhand aus den geheimen Versenkungen der riesigen Bühne emporsteigen oder aber genauso geisterhaft und elegant wieder in diese geheimnisvolle Unterwelt verschwinden. Dramatische Regengüsse fegen über die Darsteller hinweg, Nebelschwaden kriechen aus den Ecken oder Sturmböen zerwühlen das Haar der verzweifelten Heldin. Alles auf Knopfdruck. Die Welten, die man in der Radio City Music Hall erleben kann, sind, wie das Kino oder der Theme Park, artifizielle und in ihrer sensuellen Kommunikation eindeutig auf einen Zuschauer hin ausgerichtete Welten. Der Begriff „Entertainment“ greift meiner Meinung nach inzwischen zu kurz für diese Weltentwürfe, die die entsprechende Industrie zu immer umfassenderen Informationsräumen zusammenfügt. Bühnen- und Filmwelten werden mehr als nur Simulationen, sie bilden eine diffundierende Schnittmenge zwischen Fiktion und Realität, für die Baudrillard in den 80er Jahren den Begriff Hyperrealität schuf. In hyperrealen Räumen (wie z.B. Disneyland oder Las Vegas) werden Realität und Repräsentation eins. Doch die oft mit solchen Settings verbundene kulturpessimistische Kritik, der Vorwurf der inneren Leere dieser Orte ist meiner Meinung nach unberechtigt. Der Zuschauer ist selbst bei der größten Illusion, bei der bestechendsten künstlichen Welt niemals das fremd geleitete Dummerchen, für das ihn zahllose Theoretiker und Autoren halten, der Konsument fiktiver Entertainmentwelten ist sich durchaus dem artifiziellen Charakter des Erlebten bewusst, gerade durch diese Differenz ist das Erleben von Fiktion überhaupt erst ein genussvolles Erleben. Rezipieren wir fiktive Werke, ist uns durchaus bewusst, dass wir eine Kopie oder eine Simulation betrachten, aber wir tun dies in einer „willing suspension of disbelief” einem Prozess, den Samuel Taylor Coleridge schon Ende des 19. Jahrhunderts beobachtete und den Umberto Eco später dann mit dem Bild des „Fiktionsvertrags“ illustrierte. Die Regeln dieses Vertrags sind einfach aber elementar. Man sitzt im Zuschauerraum, die künstliche Sonne der Radio City Music Hall blendet ab, die Bühne erstrahlt und Geschichten und Bilder spielen sich vor einem ab, von denen man einerseits weiß, dass sie inszeniert sind - niemand springt aus den Zuschauerreihen auf, um der bedrohten Prinzessin zu helfen, niemand springt auf die Bühne, um mit den Rockettes zu tanzen - und doch akzeptieren wir die Inszenierung als „Quasi-Real“. Wir reagieren emotional auf das Geschehen, diskutieren anschließend über das Gesehene oder verlieben uns in einem Akt so genannter parasozialer Interaktion in die Hauptfigur des Films oder der Show.

 

Mandla Reuter erzeugt mit den verschiedensten Mitteln ein sehr anschaulich skelettiertes Modell unzähliger Prozesse des Showbusiness. Er befreit die industrielle Magie von narrativen Inhalten, denn diese sind im Endeffekt beliebig und bei der grundlegenden Beobachtung von industriellem Entertainment oft geradezu hinderlich. Im Planungsprozess von Vergnügungsparks wie Disneyland spricht man bei der thematischen Ausgestaltung einer Attraktion von „theming“; und eben dieses „theming“, das Thema der Attraktion (Jungle, Raumfahrt, Fantasywelt) ist einer der variabelsten Punkte: Eine Indiana Jones-Achterbahn, eine Western-Achterbahn oder eine Raumschiff-Achterbahn sind vom grundlegenden Prozess des Erlebens nah beieinander, so wie eben auch ein Indiana Jones- ein Western oder ein Science-Fiction-Film vom menschlichen Wahrnehmungssystem erst einmal ähnlich aufgenommen und verarbeitet werden.

Diese Aufnahme von „fabricated pleasures“ in das psychische und soziale System liegt bei Mandla Reuter unter dem Mikroskop. Wie kann man aber nun das „theming“ entfernen, und wie kann man die Prozesse freilegen, die das Erleben von fiktiven Welten für uns immer wieder zu etwas Besonderem machen? Es gibt gerade im industriellen Entertainment eine Reihe von Archetypen, die deutlich zeigen, dass etwas, von dem alle sehr genau wissen, dass es seit Ewigkeiten als emotionaler Trigger funktioniert, trotz dieses allgemeinen Wissens über die Benutzbarkeit eines solchen Archetyps nicht etwa seine Wirkung verliert, sondern einfach weiterfunktioniert. Emotionale Archetypen sind quasi unverwüstlich. Klischees sind deshalb Klischees, weil sie immer und immer wieder einfach und schnell funktionieren.

Einer der klassischsten Archetypen dieser Art ist der dramatische Sonnenuntergang. Die roten Gluten der untergehenden Sonne stehen nicht nur für Anfang und Ende eines Tages, sie symbolisieren auch das Ende eines Lebensabschnitts und die gleichzeitige Neuorientierung im Leben eines Charakters. Wie viele Filmcowboys sind in Sonnenuntergänge geritten? Wie viele Piratenschiffe segelten in den glühenden Halbkreis neuen Horizonten entgegen? Nicht zu vergessen all die Liebespaare, die symbolisch in einen neuen gemeinsamen Lebensabschnitt übergehen. Sehnsucht pur. Bilder von Sonnenuntergängen erzeugen Emotionalität und finden sich in jedem Abstraktionsgrad: Die Bühne der Radio City Music Hall ist quasi eingefasst in einen Architektur gewordenen Sonnenuntergang, und auch das Beleuchtungssystem des Theaters imitiert das Auf- und Untergehen der Sonne.

Für die Arbeit 1, 2, 3, 4, 5 (2006) hat Mandla Reuter gezielt bei einem Fotografen in Hollywood eine Fotoserie über einen Sonnenuntergang in Auftrag gegeben.

Abgesehen von der Verdoppelung und gleichzeitigen Entkräftung der Bedeutungsträger „Hollywood“ und „Sonnenuntergang“ entspricht diese Fotoreihe quasi einer partitionierten Zeitlupe des Moments des Sonnenuntergangs, dieses ewig wiederholbaren Bildes eines symbolischen Lichtwechsels, mit dem die Radio City Music Hall mehrmals täglich den Wechsel im Blick des Zuschauers evoziert und, genau wie es Mandla Reuter in der Arbeit On and On (2006) tut, zeichenhaft zwischen Inszenierung und Alltag unterscheidet.

Die wiederholte Nutzung eines überreizten Klischee-Bildes (einer untergehenden Sonne) und die kontinuierliche Wiederholung des Lichtwechsels im Ausstellungsraum stellen die kommunikative Kraft dieser Elemente frei, die ja inzwischen selbst zu stereotypen Zeichen geworden sind. Die Ausstellungsräume befinden sich in einem ständigen „Jetzt geht es los - Jetzt hört es auf“, ganz wie die artifizielle Sonne in der Radio City Music Hall, allerdings ohne ein spezifisches „es“. Auch die Ausstellung selbst wiederholt sich, sowohl im 1822 Forum als auch im rraum finden sich gleiche Konzepte realisiert, doch es geht nicht um eine vermeintliche Kopie (die Frage wäre dann auch: was kopiert was?) sondern um die sozialökonomische Kraft des Spektakels, den Aufwand der Show, der immer auch Teil derselben ist.

Wie bei einer Welttournee eines Popstars, für die tonnenweise Equipment, riesige Bühnenaufbauten, LED-Displays, Sound- und Beleuchtungsanlagen, mobile Wohn- und Sanitäreinrichtungen usw. einmal um die Welt transportiert werden, um bei jedem Auftritt immer dasselbe Set zu erzeugen, so wurde für Isolated Human Particles Floating Weightlessly Through a Magnetic Field of Fabricated Pleasure, Occasionally Colliding die komplette Einrichtung der Wohnung von Meike Behm und Peter Lütje, den beiden Betreibern des Ausstellungsraums rraum, mittels eines Umzugsunternehmens in die Hinterräume des 1822 Forums transportiert. So wurde einerseits durch die nun leere Wohnung die Konstruktion einer möglichst großen Parallelität ermöglicht, als auch der Aufwand im Konstruieren von kontrollierten Situationen wie Großkonzerten oder Shows als Zeichen isoliert.

Durch die Gleichzeitigkeit der Ausstellungen entsteht dabei sozusagen eine Übererfüllung des Tour-Konzeptes, ähnlich wie bei Michael Jacksons leider kurzfristig abgesagten Millenniumskonzerten 1999/2000, die den Popstar nacheinander in Sydney und Honolulu durch Überfliegen der Datumsgrenze mit einer Concorde zweimal hintereinander ein Silvesterkonzert mit zweimaligem Countdown und zweimaliger Mitternacht ermöglicht hätten. Ich möchte hier auch gerne selbst eine bewusste Wiederholung eines Archetypen vornehmen und wie schon Tausende vor mir Andy Warhol zitieren, der in den 80er Jahren seine Liebe zur Hyperrealität sehr exakt mit: „Das Schönste an Tokio ist McDonalds. Das Schönste an Stockholm ist McDonalds. Das Schönste an Florenz ist McDonalds. Peking und Moskau haben bis jetzt noch nichts Schönes.” beschrieben hat. Dieses Zitat gibt es seit Jahren sogar in Museumsshops als Postkarte, aber das macht es eben, so wie auch den dramatischen Sonnenuntergang, nicht weniger wirksam.

 

Codes für das Versprechen einer anderen Welt sind in Mandla Reuters Arbeiten stets

gegenwärtig und, wie zum Schutz gegen ihre suggestive Kraft, immer auch gebrochen. So auch 1312 Babylon (2005), ein direkt im Kino aufgenommener Audio-Mitschnitt eines aktuellen Blockbuster-Filmes, der durch die in der Aufnahme fehlende visuelle Information und die zusätzlich auf der Aufnahme hörbaren Nebengeräusche der anderen Besucher die immer weiter perfektionierte Illusion des Kinotons ( Dolby Surround, Dinosaurier kommt „von hinten“ herangestapft, etc.. ) durch das Ausklammern des visuellen Inputs von ihrer emotionalen Kopplung an die Filmhandlung ablöst. Der so im Raum abgespielte Ton suggeriert einerseits ganz im Sinne einer Vorführung, es laufe „irgendwo“ ein Film, andererseits dekonstruiert er eben genau die Elemente, die die Illusionsmaschinerie des Kinos benutzt, um das „Eintauchen“ in die Filmwelt zu ermöglichen.

So wie Bild und Ton sich im Kino zu einem Ganzen fügen, so fügen sich auch diese beiden Orte im Erleben der jeweiligen Parallelausstellung zu etwas, das mehr als nur die Summe seiner Teile ist.